„Nicht alles, was man im Leben tut, ergibt am Ende den erhofften Sinn.“

Inter­view mit der Autorin Sabi­ne Mid­del­hau­fe über Ihren Roman »Ruhr­ge­biet – Ita­li­en und zurück«, prä­gen­de Bücher, deut­sche und ita­lie­ni­sche Kul­tur und die Sinn­fra­ge ihrer Generation.

 

mini­fa­nal: Frau Mid­del­hau­fe, beim Lesen Ihres Roma­ne stellt sich die Fra­ge: wie viel von der Autorin Sabi­ne Mid­del­hau­fe steckt in der Figur Susan­ne Meinert?

Sabi­ne Mid­del­hau­fe: Susan­nes Erfah­run­gen und Gedan­ken ent­spre­chen natür­lich häu­fig mei­nen eige­nen, aber es fehlt in ihrer Geschich­te ein wich­ti­ger Aspekt mei­nes Lebens, denn Hun­de und Wöl­fe spie­len für Susan­ne kei­ne Rolle.

 

Schon die jun­ge Susan­ne ist ein Bücher­wurm und fin­det auch spä­ter oft Rat in einem Buch; trifft das auf Sie eben­falls zu?

Abso­lut. Das Buch, bei des­sen Lek­tü­re ich mit elf, zwölf Jah­ren zum ers­ten Mal bewusst spür­te, dass es mei­ne Fan­ta­sie und Sehn­sucht direkt ansprach, dass es mich betraf, war Eichend­dorffs »Aus dem Leben eines Tau­ge­nichts«. Ganz ähn­lich ging es mir ein paar Jah­re spä­ter mit Hes­ses »Demi­an« und Bru­nos »Ascher­mitt­wochs­mahl«.

Ein gutes Buch, das ein­fach eine Alter­na­ti­ve zum vor­herr­schen­den Den­ken und Han­deln vor­stellt, ohne den Leser zur Über­nah­me der Ideen zu zwin­gen oder bekeh­ren zu wol­len, kann ein aus­ge­zeich­ne­ter Rat­ge­ber sein, gera­de weil es nicht rät, son­dern nur Denk­an­stö­ße gibt.

Auch Bede Grif­fiths »Return to the cent­re« und Peter Schel­len­baums »Im Ein­ver­ständ­nis mit dem Wun­der­ba­ren« haben mich in die­sem Sin­ne beein­flusst. Aber wie Susan­ne habe ich mich auch begeis­tert durch end­los vie­le bri­ti­sche Who­dun­nits, Rei­se­be­rich­te von Autoren wie Chat­win und Thu­b­ron, Bio­gra­fien, his­to­ri­sche Roma­ne und Mär­chen­ro­ma­ne gelesen.

 

Ist der zwei­te Prot­ago­nist des Romans, Rove­no Mai­ni, eine rei­ne Kunstfigur?

Rove­no ist im Wesent­li­chen die Ver­schmel­zung von zwei rea­len Gast­ar­bei­ter­jun­gen, die als Kin­der nach Deutsch­land kamen und spä­ter bewusst ent­schie­den, dort zu blei­ben. Die aka­de­mi­sche Kar­rie­re des einen, wenn auch nicht als Pro­fes­sor für Geschich­te, und die Euro­pa-Idee des ande­ren sind in der Figur Rove­nos vereint.

Man­che Details für Rove­nos Duis­bur­ger Leben und das der Fami­lie sei­ner Frau ver­dan­ke ich, außer eige­nen Erin­ne­run­gen, auch eini­gen Freun­den, die regel­mä­ßig in Ita­li­en Urlaub machen, aber als ehe­ma­li­ge Gast­ar­bei­ter­kin­der eben­falls vor­ge­zo­gen haben, in Deutsch­land zu leben.

 

„Deut­sche und Ita­lie­ner bewun­dern sich gegen­sei­tig für Eigen­schaf­ten, die sie nie und nim­mer selbst anneh­men wollten.“

 

Schrei­ben war immer ein Teil Ihres Lebens und wich­ti­ge Aus­drucks­form. Unter ande­rem haben Sie Gedich­te für eine Antho­lo­gie geschrie­ben und sind Ver­fas­se­rin eines Bolo­gna-Rei­se­füh­rers und zahl­rei­cher Hun­de­bü­cher. Wie kam dann die Idee zum Roman?

Die 60er Jah­re waren ein kul­tu­rel­les Füll­horn für uns Teen­ager, die 70er brach­ten noch mehr Frei­hei­ten und Mög­lich­kei­ten, und zwangs­läu­fig Kon­flik­te mit unse­rer Eltern­ge­nera­ti­on. Es war eine auf­re­gen­de Zeit, wenn­gleich nicht ohne Schat­ten­sei­ten. Dass Gleich­alt­ri­ge aus einer ande­ren Kul­tur, also die ita­lie­ni­schen Gast­ar­bei­ter­kin­der, den sel­ben Zeit­ab­schnitt im Ruhr­ge­biet völ­lig anders (mit)erlebt hat­ten, wuss­te ich von mei­nen Freun­den, die die Figur Rove­no Mai­ni inspi­rier­ten. Die prin­zi­pi­ell sehr unter­schied­li­che Gestal­tung kul­tu­rel­ler Eck­pfei­ler wie Ehe, Fami­li­en­le­ben, Kin­der­er­zie­hung, Ess­ge­wohn­hei­ten, Schu­le und so wei­ter in Ita­li­en und Deutsch­land und wie man das als Frem­der im jewei­li­gen Gast­land selbst erlebt und emp­fin­det, war dann auch der eigent­li­che Aus­lö­ser für die Idee, die­sen Roman zu schrei­ben. Gera­de Deut­sche und Ita­lie­ner bewun­dern sich gegen­sei­tig für Eigen­schaf­ten, die sie in der Wirk­lich­keit nie und nim­mer selbst anneh­men könn­ten oder woll­ten. Das ergibt eine sehr inter­es­san­te, oft auch höchst amü­san­te Dyna­mik. Susan­ne und Rove­no die­nen im Grun­de nur als kon­kre­te Bei­spie­le für die Begeg­nung und den Aus­tausch zwi­schen den bei­den Kulturen.

 

„Es ist es über­haupt nicht abson­der­lich, wenn sich jemand in der Tos­ka­na auf einen Berg setzt, um nach einem indi­vi­du­el­len Weg durchs Leben zu suchen.“

 

Susan­ne Mei­nert und Rove­no Mai­ni suchen in Ihrem Roman auch nach dem Sinn des Lebens und es gelingt ihnen in spä­te­ren Jah­ren sich mit ihrem Leben, den kul­tu­rel­len und loka­len Brü­chen und ihren eige­nen Ent­schei­dun­gen und Taten zu ver­söh­nen. Bei­de kön­nen zufrie­den auf einen selbst gewähl­ten Lebens­weg zurück­bli­cken. Haben Sie den Roman gebraucht, um ins Rei­ne zu kom­men oder haben Sie ihn viel­mehr erst schrei­ben kön­nen, als sie im Rei­nen waren?

Ich glau­be, es ist zunächst mal wich­tig sich zu erin­nern, dass die gro­ße Sinn­fra­ge für mei­ne Gene­ra­ti­on bedeut­sam weil über­all prä­sent war: fast jeder Teen­ager las damals Camus, Fromm und viel­leicht auch C.G. Jung und Charles Duch­aus­sois »Flash«, ver­schlang Hes­ses Wer­ke; die Beat­les lie­ßen sich von Maha­ri­shi Mahe­sh Yogi lei­ten, in den 70ern gewan­nen die Hare Krish­na-Bewe­gung, Bhagwan/Osho und die Jesus Peo­p­le Bedeu­tung. In die­sem Kon­text ver­stan­den, ist es über­haupt nicht abson­der­lich, wenn sich jemand in der Tos­ka­na auf einen Berg setzt, um nach einem indi­vi­du­el­len Weg durchs Leben zu suchen, oder, in Rove­nos Fall, als eine Art Ersatz für die übli­che ita­lie­ni­sche Groß­fa­mi­lie die­se roman­ti­sche Schwär­me­rei für Euro­pa und sei­ne mit­ein­an­der ver­wand­ten Völ­ker zu entwickelt.

Aber mit sich selbst ins Rei­ne zu kom­men ist für bei­de Figu­ren gar nicht so sehr der Punkt, son­dern eher, gewis­se Wahr­hei­ten zu akzep­tie­ren: nicht alles, was man im Leben tut, ergibt am Ende den erhoff­ten, erkenn­ba­ren Sinn. Nicht alles, was man vol­ler Ener­gie und Begeis­te­rung anstrebt, erweist sich, nach­dem man es schließ­lich bekom­men oder erreicht hat, als die gro­ße Erfül­lung. Nur heißt das eben nicht, dass es des­halb nutz­los war.

 

„Die intui­ti­ven Ent­schei­dun­gen haben so man­che absur­de, man­che schmerz­haf­te Kon­se­quenz gehabt.“

 

Hat­ten Sie bei all den unor­tho­do­xen Ent­schei­dun­gen und Schrit­ten in ihrem eige­nen Leben bis­wei­len das Gefühl, es könn­te jetzt mal so rich­tig schiefgehen?

Vor­ab sicher nicht, denn ich tei­le Susan­nes Opti­mis­mus, dass am Ende schon alles gut aus­ge­hen wird. Aber die intui­ti­ven Ent­schei­dun­gen haben so man­che absur­de, man­che schmerz­haf­te Kon­se­quenz gehabt. Des­halb bin ich aber nicht weni­ger froh, sie getrof­fen zu haben und das beweist eigent­lich, dass es tat­säch­lich gut aus­ge­gan­gen ist.

 

Häu­fig heißt es, nach einem Leben im Aus­land zieht es einen im Alter doch wie­der zurück in sein Geburts­land. Den­ken Sie an einen Lebens­abend in Deutschland?

Ganz bestimmt nicht. Ich lebe seit Jahr­zehn­ten in Ita­li­en und habe, trotz gele­gent­li­cher Nör­ge­lei an bestimm­ten Zustän­den und Gepflo­gen­hei­ten hier, so viel von der ita­lie­ni­schen Lebens­wei­se assi­mi­liert, dass ich mich in Deutsch­land nicht wohl füh­len könnte.

 

Ein Rat­schlag für alle, die ger­ne so frei leben wür­den wie Susan­ne Mei­nert, aber doch auch Angst haben?

Aus mei­ner Sicht lebt Susan­ne durch­aus nicht frei. Etwas zu tun, weil man letz­ten Endes gar nicht anders kann, wenn man sich nicht selbst ver­lie­ren will, hat zumin­dest mit Frei­heit im Sin­ne von „tu, was dir gefällt“ nichts zu tun.

Wer wirk­lich anders leben will, hat kei­nen Grund sich davor zu fürch­ten und braucht ganz sicher kei­ne Rat­schlä­ge von außen. Anstö­ße viel­leicht, aber den bes­ten Rat fin­det er in sich selbst.

 

Herz­li­chen Dank für das Interview!

 

 

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Sabi­ne Mid­del­hau­fe kam 1957 in Bochum zur Welt und ver­brach­te ihre Kind­heit und frü­he Jugend in der Ruhr­ge­biets­stadt. Nach der Schu­le zog sie nach Ham­burg und stu­dier­te dort Archi­tek­tur, Theo­lo­gie und Phi­lo­so­phie. 1982 ver­schlug es sie zum ers­ten Mal nach Nord­ita­li­en. Begeis­tert kehr­te sie 1985 dort­hin zurück und lebt mit einer kur­zen Unter­bre­chung bis heu­te dort.

Im Janu­ar 2021 erschien Ihr Roman »Ruhr­ge­biet – Ita­li­en und zurück« im minifanal-Verlag.

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